Die Menschen stehen bei aller Vielfalt in Europas Regionen vor ganz ähnlichen Herausforderungen. Da sind ganz akut der russische Angriff auf die Ukraine und die damit einhergehenden Folgen, etwa die Flucht vieler Millionen ukrainischer Bürgerinnen und Bürger, die in den Städten und Gemeinden in ganz Europa Aufnahme finden, aber auch der starke Anstieg der Lebenshaltungskosten. Dahinter stehen noch größere geopolitische Veränderungen, die alle Europäerinnen und Europäer gleichermaßen betreffen und mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht einhergehen.
Unmittelbarer als die Auseinandersetzung mit China erfahren die Menschen aber die Alterung der Gesellschaft. Der demografische Wandel, lange Zeit akademische Theorie, schlägt inzwischen von Lappland bis Sizilien, von der Algarve bis ans Schwarze Meer voll durch. Überall fehlen nicht „nur“ Fachkräfte, sondern Menschen, die für die Aufrechterhaltung grundlegendster Dienstleistungen gebraucht werden. Diese Erfahrung machen wir in Europa zwar nicht allein, sie wird aber das Leben in Europa in den nächsten Jahrzehnten prägen.
Die dritte elementare Herausforderung ist die Aufgabe, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa in möglichst kurzer Zeit – trotz des Arbeitskräftemangels – auf Klimaneutralität umzustellen und gleichzeitig die gebotenen Anpassungen vorzunehmen. Alle diese Entwicklungen fordern die bestehende gesellschaftliche Ordnung in den EU-Mitgliedstaaten heraus, sie gehen einher mit einer immer konkreteren Gefährdung unserer freiheitlichen Demokratie.
Diese drei großen Herausforderungen, die geopolitische, die demografische und die ökologische ziehen viele weitere nach sich. Sie betreffen nicht nur alle Europäerinnen und Europäer gleichermaßen, sie lassen sich auch nur gemeinsam bewältigen. Kein Mitgliedstaat allein verfügt auch nur ansatzweise über die Mittel, die sich abzeichnenden Krisen zu bestehen. Das kann nur in gemeinsamer europäischer Anstrengung geschehen. Deshalb sollte der diesjährige Europatag, der angesichts des großen Sterbens in der Ukraine kein Freudentag sein kann, Anlass für einen Ruck geben, der durch die europäischen Hauptstädte gehen muss.
Es ist Zeit für mutige Schritte wie die Abschaffung des Vetorechts der Mitgliedstaaten in den verbleibenden Politikfeldern und die Abkehr von der intergouvernementalen Methode, die zu nichts anderem führt als zu Stillstand. Die erfolgreiche Verteidigung der Demokratie in Europa fängt damit an, dass wir auch in der europäischen Politik konsequent auf demokratische Spielregeln setzen. Die Totalblockade oder sogar Erpressung durch Einzelne ist damit unvereinbar. Mehrheitsentscheidungen können auch ohne Vertragsreform zur Regel werden.
Zudem sehen die Verträge ausdrücklich die Möglichkeit vor, einen Konvent einzuberufen. Es mag immer Gründe geben, die dagegen sprechen. Wenn die existenzielle Krise aber Mut erfordert und mehr Bewusstsein für die europäische Schicksalsgemeinschaft, dann ist der Zeitpunkt dafür jetzt genau der richtige. Deshalb schließt sich die überparteiliche Europa-Union Deutschland der Forderung ihres Dachverbands, der Union Europäischer Föderalisten, nach einem Konvent ausdrücklich an.
Rainer Wieland MdEP, Vizepräsident des Europäischen Parlaments, ist seit 2011 Präsident der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V.